Zungenlage: Warum die Position der Zunge Kiefer, Atmung und Körperhaltung beeinflusst
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Zungenlage: Warum die Position der Zunge Kiefer, Atmung und Körperhaltung beeinflusst

11. Dezember 20257 Min. Lesezeit
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Wo die Zunge in Ruhe liegt, beeinflusst Kieferentwicklung, Atmung und Körperhaltung. Erfahren Sie, warum die Zungenposition so wichtig ist – und was Sie tun können.

Kennen Sie das? Ihr Zahnarzt sagt, der Unterkiefer sei „zu weit hinten". Der Orthopäde sieht eine Haltungsstörung. Der HNO-Arzt bemängelt die Mundatmung. Und der Physiotherapeut arbeitet an Ihrem Nacken – aber niemand erklärt Ihnen, was das alles miteinander zu tun hat.

Ein zentrales, oft übersehenes Bindeglied ist die Zungenlage. Wo Ihre Zunge in Ruhe und beim Schlucken liegt, beeinflusst Kieferwachstum, Atmung, Muskelspannung und Körperhaltung – vom Schädel bis zu den Füssen. Nicht Philosophie, sondern Physiologie.

Die Zunge – ein „kleiner Muskelriese" mit grosser Wirkung

Die Zunge ist kein einzelner Muskel, sondern ein Muskelkomplex aus inneren und äusseren Muskeln, der über das Zungenbein (Os hyoideum), die Unterkiefermuskulatur, den Schädel und die Halswirbelsäule mit dem restlichen Körper verbunden ist.

Die Zunge ist über Muskeln wie M. genioglossus, M. hyoglossus und M. styloglossus mit Unterkiefer und Zungenbein verbunden. Das Zungenbein wiederum hängt über Muskulatur an Kiefer, Kehlkopf, Brustbein und Schultergürtel. Über diese Muskelketten steht die Zunge in direkter Verbindung mit Nackenmuskulatur, Wirbelsäule und Schultergürtel.

Gut zu wissen: Die Zunge ist eines der kräftigsten Muskelsysteme des Körpers im Verhältnis zu ihrer Grösse. Sie arbeitet rund um die Uhr – beim Schlucken, Sprechen, Atmen, Kauen und sogar in der Ruheposition.

Was ist die „richtige" Zungenlage?

Unter physiologischer Zungenlage versteht man eine bestimmte Ruheposition und ein korrektes Schluckmuster.

In Ruhe gilt:

  • Die Zunge liegt breit und flächig am Gaumen an, insbesondere im vorderen und mittleren Drittel
  • Die Zungenspitze berührt etwa den Bereich hinter den oberen Schneidezähnen, ohne zu pressen
  • Die Lippen sind locker geschlossen
  • Die Atmung erfolgt überwiegend durch die Nase

Beim Schlucken gilt:

  • Die Zunge schiebt nicht gegen oder zwischen die Zähne
  • Die Zunge „saugt" sich eher an den Gaumen an und leitet das Schlucken nach hinten in den Rachen

Diese Position unterstützt das Kieferwachstum nach vorn und zur Seite, eine stabile Bisslage, eine ungestörte Nasenatmung und eine ausgeglichene Muskelspannung im Kopf-Hals-Bereich.

Zungenlage und Kiefer: Form folgt Funktion

Wie die Zunge den Oberkiefer formt

Der Oberkiefer (Maxilla) wächst in einem Spannungsfeld: Von aussen drücken Wangen- und Lippenmuskulatur nach innen. Von innen drückt die Zunge nach aussen und oben gegen den Gaumen.

Nur wenn die Zunge regelmässig am Gaumen liegt, kann sich der Oberkiefer dreidimensional gesund entwickeln – in der Breite (ausreichender Platz für alle Zähne), in der Höhe (ein flacher, gut gewölbter Gaumen) und in der Position im Gesicht.

Fehlt dieser Zungendruck – etwa durch Mundatmung oder falsches Schluckmuster – überwiegt die Zugkraft der Wangenmuskeln. Die Folge: ein schmaler Oberkiefer, Engstand, Kreuzbiss oder offener Biss. Dazu ein hoher, schmaler Gaumen, der in den Nasenraum „hineinragt" und die Nasenatmung erschwert.

Eine Studie von Principato (1991) beschreibt diesen Zusammenhang: Tiefe Zungenposition bei Mundatmung hemmt die laterale Expansion und anteriore Entwicklung der Maxilla (DOI: 10.1177/019459989110400621).

Unterkieferlage, Biss und Muskelketten

Die Lage des Unterkiefers hängt eng mit der Zungenlage zusammen. Liegt die Zunge vorwiegend unten im Mundboden, wird der Unterkiefer häufig eher nach hinten und unten gezogen. Liegt die Zunge physiologisch oben am Gaumen, stabilisiert dies eine ausgewogene Unterkieferposition.

Eine Studie von Primozic et al. (2012) zeigt: Die Zungenposition ist bei Patienten mit Klasse-III-Fehlbiss signifikant tiefer und korreliert mit veränderten Kieferstrukturen (DOI: 10.1093/ejo/cjs015).

Störungen in diesem System können führen zu craniomandibulärer Dysfunktion (CMD) mit Kiefergelenkknacken und Schmerzen, Überlastung der Kaumuskeln durch Zähneknirschen und Pressen sowie reflektorischer Verspannung der Nacken- und Schultermuskulatur.

Zungenlage und Atmung: Nasenatmung vs. Mundatmung

Warum die Zunge die Atemwege beeinflusst

Die Zunge bildet die vordere Wand des Rachens. Ihre Position entscheidet mit darüber, wie weit oder eng der Atemweg ist.

Bei physiologischer Zungenlage (oben am Gaumen) liegt die Zunge „vorn-oben", der Rachenraum bleibt frei und die Nasenatmung wird funktionell unterstützt.

Bei tiefer Zungenlage und Mundatmung sinkt die Zunge nach hinten-unten und kann den Rachenraum einengen. Vor allem in Rückenlage kann das zum Schnarchen oder zu Atemaussetzern (Schlafapnoe) beitragen.

Gerade bei Kindern mit Mundatmung findet man häufig vergrösserte Rachenmandeln (Adenoide), einen schmalen Oberkiefer mit hohem Gaumen und eine vorverlagerte Kopfhaltung als Kompensation.

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Wichtig

Dauerhafte Mundatmung ist kein „harmloses Angewohnheitsthema". Sie beeinflusst Kieferwachstum, Sauerstoffversorgung und Schlafqualität und sollte frühzeitig abgeklärt werden – beim Kinderarzt, HNO oder in der Kieferorthopädie.

Nasenatmung: Filteranlage und Turbolader des Körpers

Die Nase ist kein Luxus, sondern ein hochspezialisiertes Organ. Sie filtert Partikel und Keime durch Flimmerhärchen und Schleimhaut, befeuchtet und erwärmt die eingeatmete Luft und fördert die Bildung von Stickstoffmonoxid (NO).

Eine Übersichtsarbeit von Marcuccio et al. (2023) zeigt: Nasales Stickstoffmonoxid spielt eine Schlüsselrolle bei der Immunabwehr, erweitert Blutgefässe in der Lunge und verbessert den Sauerstoffaustausch (DOI: 10.3390/jcm12155081).

Wenn die Zunge korrekt am Gaumen ruht und die Lippen geschlossen sind, wird die Nasenatmung zur einfachen, automatischen Standardeinstellung.

Zungenlage und Körperhaltung: Von den Zähnen bis zu den Füssen

Zungenbein, Halswirbelsäule und Muskelketten

Das Zungenbein (Os hyoideum) ist ein kleiner, frei hängender Knochen im Halsbereich. Es ist über Muskulatur verbunden mit dem Unterkiefer (suprahyoidale Muskulatur), dem Kehlkopf sowie Brustbein und Schultergürtel (infrahyoidale Muskulatur).

Verändert sich die Zungenlage dauerhaft, muss das Zungenbein seine Position anpassen. Daraus folgen Kompensationen in der Halsmuskulatur, Einfluss auf die Kopfhaltung und mögliche Veränderungen in der globalen Statik von Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule und Beckenstellung.

Eine aktuelle Studie von Kerbrat et al. (2024) belegt: Patienten mit Kieferfehlstellungen zeigen eine Hyperkyphose der unteren Halswirbelsäule und eine Kopfvorhaltung. Diese Haltungsänderungen korrelieren mit der Gesichtslänge und Mundatmung (DOI: 10.1016/j.jormas.2024.102200).

Auch Akhlaghi et al. (2024) zeigten: Nach Kieferchirurgie verändert sich messbar die Kopf- und Nackenhaltung der Patienten (DOI: 10.1016/j.ijom.2024.06.011).

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Gut zu wissen

Der Körper versucht immer, die Augen in der Waagerechten und die Atmung aufrechtzuerhalten. Wenn Kiefer oder Zungenlage ungünstig sind, passt er dafür notfalls die Wirbelsäule an – mit langfristigen Folgen für Muskulatur und Gelenke.

Muskuläre Dysbalancen und Schmerz

Eine fehlfunktionelle Zungenlage kann über Jahre die Kaumuskulatur überlasten, das Kiefergelenk fehlbelasten und eine Daueranspannung der Nackenmuskulatur fördern.

Typische Beschwerden sind:

  • Spannungskopfschmerzen
  • Schmerzen im Kiefer- und Gesichtsbereich
  • Nacken- und Schulterverspannungen
  • Tinnitus oder Ohrdruck
  • Unspezifische Rückenbeschwerden

Diese Beschwerden sind häufig multifaktoriell – Zungenlage, Atmung, Kieferstellung, Stress und Haltung verstärken sich gegenseitig.

Knochenmetabolismus: Warum Funktion die Knochenform verändert

Knochen sind lebendes Gewebe, das sich ständig umbaut. Der Knochenmetabolismus wird durch mechanische Belastung (Druck, Zug), hormonelle Faktoren sowie Durchblutung und Stoffwechsel gesteuert.

An Kiefer und Gaumen bedeutet das: Regelmässiger Zungendruck am Gaumen wirkt wie ein sanfter „Formgeber". Osteoblasten bauen dort Knochen auf, wo physiologischer Druck anliegt. Der Oberkiefer kann so breiter und stabiler werden.

Fehlbelastungen hingegen – etwa seitliches Pressen der Zunge gegen einzelne Zähne oder permanenter Druck durch Lippen und Wangen – können das Wachstum umlenken und Fehlstellungen begünstigen.

Eine Fallstudie von Green (2013) dokumentiert: Nach Korrektur von Zungen- und Lippenruhelage durch myofunktionelle Therapie verbesserte sich das Kieferwachstum signifikant (Int J Orofacial Myology, Vol. 39, S. 45-53).

Dieses Prinzip „Form folgt Funktion" ist ein Grundpfeiler der funktionellen Kieferorthopädie und der Dentosophie.

Was können Sie tun?

Wenn Sie vermuten, dass Ihre Zungenlage nicht optimal ist, gibt es mehrere Anlaufstellen:

Fachliche Abklärung:

  • Zahnarzt oder Kieferorthopäde mit Fokus auf funktionelle Therapie
  • HNO-Arzt bei Verdacht auf behinderte Nasenatmung
  • Logopäde oder myofunktioneller Therapeut

Selbstbeobachtung:

  • Wo liegt Ihre Zunge gerade in diesem Moment?
  • Atmen Sie überwiegend durch die Nase oder den Mund?
  • Haben Sie morgens einen trockenen Mund?

Mögliche Therapieansätze:

  • Myofunktionelle Therapie zur Korrektur von Zungenlage und Schluckmuster
  • Dentosophie mit Balancer zur Unterstützung der natürlichen Kieferentwicklung
  • Atemtherapie zur Förderung der Nasenatmung

Fazit

Die Zungenlage ist weit mehr als ein Detail. Sie beeinflusst, wie sich Kiefer und Gesicht entwickeln, wie wir atmen und wie unser Körper sich im Raum ausrichtet. Eine physiologische Zungenposition – breit am Gaumen, Lippen geschlossen, Nasenatmung – ist die Basis für ein gesundes Zusammenspiel von Mund, Kiefer und Körper.

Die gute Nachricht: Auch im Erwachsenenalter lässt sich die Zungenlage noch beeinflussen. Wenn Sie unter CMD, Schnarchen, Nackenverspannungen oder Haltungsproblemen leiden, lohnt sich ein Blick auf dieses oft übersehene Thema.

Quellen

  1. Primozic J, et al. (2012). The association of tongue posture with the dentoalveolar maxillary and mandibular morphology in Class III malocclusion. Eur J Orthod. DOI: 10.1093/ejo/cjs015
  2. Principato JJ (1991). Upper airway obstruction and craniofacial morphology. Otolaryngol Head Neck Surg. DOI: 10.1177/019459989110400621
  3. Kerbrat A, et al. (2024). Specific postural alignment alterations due to long-face deformity in patients with maxillo-mandibular deformities. J Stomatol Oral Maxillofac Surg. DOI: 10.1016/j.jormas.2024.102200
  4. Akhlaghi F, et al. (2024). Changes in lateral standing posture following orthognathic surgery. Int J Oral Maxillofac Surg. DOI: 10.1016/j.ijom.2024.06.011
  5. Marcuccio G, et al. (2023). Clinical Applications of Nasal Nitric Oxide in Allergic Rhinitis: A Review. J Clin Med. DOI: 10.3390/jcm12155081
  6. Green S (2013). Case history: improved maxillary growth and development following digit sucking elimination and orofacial myofunctional therapy. Int J Orofacial Myology. 39:45-53.
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